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Der Brückenbauer

Werner Hahn begeistert als Leiter des Jungen Apollo Siegen Stadt und Region für das Theater

Von Stefan Keim

So eine Geschichte gibt es wohl nur einmal. Da begeistert sich ein Opernsänger für das Kinder- und Jugendtheater. Er lernt, schaut sich um, macht Kontakte und produziert dabei von Anfang an Stücke. Zunächst ohne Geld und eigene Spielstätte, nebenbei zum normalen Job. So entstand eine junge Bühne am Theater Hagen, das LUTZ, benannt nach dem Autor Lutz Hübner, der einige Stücke für Hagen schrieb und bearbeitete. Inzwischen eine tolle Bühne mit eigenem Saal, anerkannt, etabliert. Werner Hahn, um den es hier geht, hat vor nicht einmal einem Jahr neu angefangen. Mit 61 Jahren warf er sich erneut in die riesige Arbeit, Kontakte zu knüpfen, Kinder und Jugendliche zu begeistern, Menschen um sich zu sammeln, deren Kreativität er fördern, nutzen und zum Leuchten bringen kann. Mit riesigem Erfolg. Ein Gespräch mit Werner Hahn.

Was hast du in Siegen vorgefunden, als du dort angefangen hast?

Siegen ist ein Bespieltheater. Wir kaufen Vorstellungen ein, haben ein Abosystem. Es gab von Anfang an eine Eigenproduktion am Apollo-Theater, das Familienstück vor Weihnachten. Jetzt ist die Idee, mehr eigenes Kinder- und Jugendtheater zu machen. Allerdings haben wir keine Werkstätten. Also müssen wir Konzepte entwickeln, die möglichst in einem leeren Raum, mit viel Licht und allerhand trickreichen Eingebungen funktionieren.

Du sprichst von „Wir“, bist aber im Prinzip ein Einzelkämpfer, oder?

Das Apollo-Theater ist von der Personalstruktur her sehr schlank aufgestellt. Ich hätte eigentlich eine Assistentin, aber die macht nebenher noch die Pressearbeit, arbeitet in der Ausstattung mit und sitzt an der Kasse und im Betriebsbüro. Ich bin mein Dramaturg, mein Autor, mein Produzent und mein Regisseur. Und dann steh ich noch auf der Bühne als Darsteller.

In Hagen hattest du ein riesiges Netzwerk aufgebaut. Fiel es dir leicht, das in Siegen wieder zu tun?

Ja, weil ich in Siegen schon gearbeitet hatte und tolle junge Menschen kannte. Es gibt da eine sehr reiche Jugendtheaterszene, kleinere Theatergruppen, die ich ansprechen kann. Da gibt es zum Beispiel ein paar Jungs libanesischer Abstammung, hervorragende Rapper. Einer davon ist sogar ein darstellerisches Ausnahmetalent, den ich schon in Hagen engagiert hatte.

Du hattest ja auch keine Zeit, erst einmal Kontakte zu knüpfen. Du musstest gleich Programm liefern.

Genau, und da war es mir wichtig, sofort Schulen zu erreichen. Ich hab gleich mit einer Kinderliederrevue zwei Grundschulklassen zusammen gebracht und ins Apollo eingeladen. Da hab ich einen alten, grantigen Großvater gespielt, der überhaupt keine Lust auf Familie hat. Plötzlich hat sich seine Enkelin angesagt, von der er überhaupt nichts weiß. Und die über 90 Kinder, die mitgemacht haben, zeigen dem Opa, was er mit der Enkelin spielen kann. Eine Dreiviertelstunde lang trainieren die den Opa. Und dann kommt die Enkelin herein – und sitzt im Rollstuhl. Alles wird über den Haufen geworfen. Er bricht zusammen, kriegt einen Hexenschuss – und plötzlich ist die Enkelin die einzige, die ihm helfen kann. Dann gehen die beiden zusammen hinaus in die Welt.

Das Mädchen im Rollstuhl hat die Behinderung nicht gespielt, oder?

Nein, ich habe sie noch in Hagen kennen gelernt, als ich an einer Schule Körpertraining mit behinderten Kindern gemacht habe. Da geht es darum, dass man auch mit körperlichen Einschränkungen Präsenz zeigen kann. Sarah Schulte ist ein wunderbar theaterbegeistertes Mädchen, das ich eingeladen habe, in Siegen mitzuspielen. Und durch ihr Spiel und die Kinderlieder hat das auch bei den erwachsenen Zuschauern zu einem ganz tiefen Theatererlebnis geführt.

Das Stück hast du wieder selbst geschrieben. Über die Jahre ist da ein riesiger Fundus zusammen gekommen. Kannst du darauf mal zurück greifen?

Nee, ich schreib die immer wieder neu. Meine Sicht auf die Dinge ändert sich, die Menschen, mit denen ich zusammen arbeite, sind immer wieder neu. Das ist auch bei den Weihnachtsmärchen so. Da setzte ich immer wieder neue Akzente. In Hagen waren das mehr Musicals, in Siegen betone ich mehr das Schauspiel.

Und was hast du nun mit den Rappern gemacht?

Das Stück heißt „Zugzwang“ und wurde großzügig gefördert durch das Kultursekretariat in Gütersloh. Drei Rapper aus Siegen, wie gesagt libanesischer Herkunft, haben eine sehr gute Band, die sich aus Rockern und Jazzern zusammensetzt. Das ist eine musikalisch ganz eigene Mischung. Die Geschichte geht nun so, dass ein ausgedienter Schlagersänger den Rapper D.K. in sein Konzert einlädt. Im Publikum sitzen zwei verschiedene Jugendgruppen. Die eine besteht aus Mädchen und ist pro Asyl engagiert, die finden die Rapper toll. Die andere besteht aus Jungs, die sehr rechtslastig sind. Diese beiden Gruppen streiten sich, das Konzert bricht auseinander. Und wir kriegen viel mit über die zweite Generation von Migranten, über die Frage, ob sie hier angekommen sind und sich heimisch fühlen können.

Das klingt nach einem irritierenden Erlebnis, wenn plötzlich im Saal der Streit los geht.

Das war es auch für das Publikum, vor allem in Schulvorstellungen. Die wussten gar nicht, was da abgeht. Die Lehrer haben denen noch gesagt, sie sollen sich gut benehmen. Und dann fliegt ihnen die Vorstellung um die Ohren. Das war ein aufwühlender Prozess, da waren alle mit einer Hochspannung dabei.

Mit diesem Stück seid ihr auch auf Tour in die Region gegangen?

Ja, mit Unterstützung des Landkreises und der Initiative „Vielfalt und Zusammenhalt“. In Siegen haben die „Störenfriede“ im Publikum Jugendliche aus einer örtlichen Theatergruppe gespielt. Und auf Tour bin ich in die Schulen der jeweiligen Städte gefahren und habe dort immer neu mit Jugendlichen für die Aufführung geprobt. Das hat uns eine enge Bindung an all diese Schulen gebracht. Ich hab in Arbeiterstädten mit Hauptschülern gearbeitet, in anderen Städten mit Gymnasiasten und Sekundarschülern. Die haben natürlich völlig verschiedene Lebenshaltungen. Das war sehr aufregend für alle. Theater war für viele Schüler*innen völlig fremd. Viele mussten Ängste überwinden. Schlussendlich ist das Projekt aber voll aufgegangen. Eine Schule hat eine Ausstellung zum Stück entwickelt, in einer anderen wurde ein Film gedreht.

Dafür musstest du ständig in der Gegend herum fahren und die Proben durchführen. Sagst du eigentlich mal zu einer Anfrage nein?

Nein. Das Integrationsbüro in Siegen hat zum Beispiel eine Ausstellung über Anne Frank gezeigt. Da sollten wir für die Eröffnung eine kleine Theater-Installation zu machen. Ich hab mit neun Hauptschülern das Tagebuch der Anne Frank bearbeitet. Die hatten überhaupt keine Ahnung, wie man mit Sprache und Körper arbeiten kann. Und dann saßen da Politiker und hatten Tränen in den Augen. Und die Schüler haben bemerkt, sie können etwas bewegen.

Wird die Zusammenarbeit mit Lutz Hübner und Sarah Nemitz weiter gehen?

Ja. Wir haben schon das Stück „Hallo, Nazi“, das wir in Hagen gespielt haben, für Siegen bearbeitet. Das war sehr spannend, weil wir einen ganz neuen Raum geschaffen haben, wir haben das Publikum auf die Bühne geholt. Wir haben jetzt in der Passionszeit übrigens auch ein ganz anderes Projekt in der Wuppertaler Stadthalle gemacht. Das weltberühmte Auryn-Quartett hat die „sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ von Joseph Haydn gespielt. Dazu gibt es eine Textfassung von Walter Jens, die wir als Rauminstallation umgesetzt haben. Das war für die jungen Menschen eine Ausnahmeerfahrung.

Schält sich in Siegen ein Kernensemble heraus, Leute mit denen du öfter arbeitest?

Es gibt einige hoch begabte Jugendliche, bei denen Zuschauer nicht merken, ob da Profis oder Laien auf der Bühne stehen. In den großen Ferien machen wir ein Sommercamp im Apollo-Theater mit Kindern und Jugendlichen, die ich im Laufe der letzten Monate neu kennen gelernt habe. Inhaltlich nähern wir uns der Ring-Parabel, bearbeiten das Stück, entwickeln die Regie, die Musik, auch Tanznummern. Ende September gibt es dann die Premiere. 30 junge Menschen aus Siegen und der Region sollen die schulleere Zeit nutzen, um Theater zu spielen.

Anmeldungen habt ihr bestimmt schon…

Ja, aber es können noch Jungs kommen, es haben sich schon viele Mädchen gemeldet. Ein Highlight für nächste Spielzeit wird außerdem die Zusammenarbeit mit Studierenden der Universität Siegen: Wir inszenieren eine Operetten-Produktion.

Ich wage kaum zu fragen, ob dir die Theaterarbeit jemals zu viel wird.

Es ist natürlich eine große Kraftanstrengung. Aber Theater ist eine der sehr wenigen Möglichkeiten, um Menschen aus verschiedenen Kulturen und Lebenshaltungen wirklich zusammenzubringen. Ich habe den Eindruck, wir haben in unserer Gesellschaft die Brücken verloren. Theater kann so eine Brücke sein.


Werner Hahn (Fotos: Dagmar Hesse)


Apollo-Theater Siegen: Zugzwang (Fotos: Werner Hahn)